Detmold, 2. October 1855
Liebe Betty!
Ich sitze wieder bei meiner siebzigjährigen Mutter
in dem stillen Detmold. Die Herbstsonne bricht durch die gelb-
grünen Lindenblätter und zittert auf den Blumen des
Teppichs. Einige leichtfertige Fliegen und ein Kanarienvogel
machen das einzige Geräusch. Es ist die Atmosphäre einer
alten Frau. Leidenschaft und Lüge sind unmöglich. Kein
Zweifel kann darüber sein: ich bin wieder zu Verstande ge-
kommen. Ich bin nüchtern wie ein frostiger Wintermorgen.
In dieser frostigen Nüchternheit lege ich die Hand aufs Herz
und gestehe mir, daß ich von meiner Liebe zu Dir leider
noch nicht kuriert bin, nein, daß es mir im Gegenteil
vorkommt, als finge ich erst an, Dich zu lieben.
Das verdammte Flennen und die abscheuliche Angst sind vor-
über. Ich betrachte Dein Bild mit der größten Ruhe; ich wage
nicht, es zu küssen, ich habe fast Furcht vor Dir, und doch
bin ich mit Leib und Seele an Dich gefesselt. Ob dies wirkliche
Liebe ist, ich weiß es nicht.
Ich habe mir immer eine Frau gewünscht, die mir
imponierte, vor der ich heiligen Respekt haben könnte.
Da ich nie eine solche fand, so küßte ich alle Weiber nur ein
Mal und die Bemühungen meiner Freunde, aus einer Liebschaft
Ernst zu machen, sind immer verloren gewesen.
Unbegreiflich ist es mir, weswegen ich mich so unwider-
stehlich zu Dir hingezogen fühle. Du bist lange nicht so schön wie
viele meiner spanischen Freundinnen. Deine Figur ist königlich,
aber es fehlt ihr eine gewisse Anmuth. Dein Mund ist zu
groß und Dein Blick entzückt abwechselnd und versteinert.
In vergangener Nacht träumte mir, Du wärst
eine Giftmischerin. Wir wären 14 Tage verheirathet, und
schon wolltest Du mir Blausäure in den Kaffee mischen und